Schwierige Phasen im Leben sind oft nicht nur eine Herausforderung, solange sie andauern. Die Zeit, in der man anfängt, sich dem Leben wieder zuzuwenden, kann genauso schwer sein. Ich finde, es hilft, wenn man in dieser Situation merkt, dass man nicht alleine damit ist und dass es normal ist, dass all das Zeit braucht. Mein Buchtipp fürs Kraftsammeln nach schwierigen Zeiten ist ein Roman, den ich sehr liebe: „Nora Webster“ von Colm Tóibín. Bestärkt durch diese Lektüre kann neue Energie und Neugierde aufs Leben ganz allmählich wieder einen Platz finden.
Worum es geht:
Im irischen Wexford der 1960er ist Nora Webster, Mutter von vier Kindern, noch wie benommen nach dem Tod ihres Mannes. Ihre beiden jüngsten Kinder, Donal und Conor, brauchen ihre Nähe und ihren Trost, die Nachbarn suchen ständig die Bestätigung, ihr helfen zu können, und sie selbst muss anfangen zu arbeiten – mit der Erzfeindin aus ihrer Jugend als Chefin. Für sie selbst bleibt wenig Platz.
Die irische Landschaft und das Meer schaffen eine packende Kulisse, vor der wir Nora immer besser kennen lernen. Die Erinnerungen an ihren Mann holen sie ein und verändern sich. Ihre Kinder scheinen ihr manchmal fast zu entgleiten, vor allem die älteren Töchter, die schon aus dem Haus sind. Und irgendwann erinnert sich Nora an Träume, die sie einmal hatte. Sie entdeckt die Musik, sie findet Gleichgesinnte und geht zum ersten Mal auf die Suche nach ihrer eigenen Stimme.
Das Besondere an diesem Buch:
„Nora Webster“ war das erste Buch von Colm Tóibín, das ich gelesen habe, und seither bin ich von diesem Autor begeistert. Er erzählt Noras Geschichte so feinfühlig, nuancenreich und tiefgehend, während die Sprache schlicht und zurückhaltend bleibt. Er lässt der Traurigkeit, der Distanziertheit und manchmal auch der Kälte der Figur Raum. Die Wärme, die aufkommt, wenn Nora zurück ins Leben und in die Musik findet, hat mich als Leserin dafür umso mehr bewegt.
Dass der Autor so einen einfühlsamen, behutsamen und respektvollen Umgang mit seiner Protagonistin findet, liegt vielleicht auch an seiner Motivation für das Buch. Mit „Nora Webster“ hat Tóibín sich mit seiner eigenen Familiengeschichte und vor allem den Erfahrungen seiner Mutter auseinandergesetzt.
Ein guter Moment für dieses Buch:
Wenn du gerade Zeit brauchst um mit einer Erfahrung klar zu kommen, dich von etwas erholen musst oder das Gefühl hast, dich selbst ein wenig aus den Augen verloren zu haben, gibt dir „Nora Webster“, wie ich finde, den Raum und die Ruhe für all diese Gefühle. Weil das Buch so zurückgenommen und wenig beschönigend ist, findet sich neben ihrer Geschichte auch Platz für dich und deine Gefühle.
Es ist in diesem Roman auch spürbar, wie viel Zeit der Weg zurück ins Leben braucht. Mitzuerleben, wie Nora unverhofft und ganz allmählich ihre Stimme findet und immer mehr für sich einsteht, ist unglaublich aufbauend. Man findet mit Nora eine Stärke – und auch, wenn man sie noch nicht in sich selbst sieht, wird man doch zuversichtlich, dass sie irgendwo da ist.
Auch wenn du gerade an einem Punkt bist, an dem dir gut gelaunte Bücher oft zu oberflächlich sind und zu einfache Antworten zu geben scheinen, kann ich diesen Roman empfehlen. „Nora Webster“ wird dem Leben in seinen offenen Fragen und seinen Grautönen absolut gerecht und ist deshalb so befriedigend, weil es diese Nuancen so genau sieht.
Wer bei diesem Buch in jeder Stimmung richtig ist:
- Alle, die bei Quizshows Spaß haben: Nora muss spontan einspringen, um bei einem Quiz im Nachbarsdorf Blackwater den Punktestand zu protokollieren. Die aufgeheizte Stimmung und die triumphierende Quizmasterin sind ziemlich unterhaltsam.
- Wer sich nach Irland sehnt: Die Landschaft ist allein von den Beschreibungen her atemberaubend. Die Szenen am Strand und das unruhige Meer wirken so lebendig, dass man sich selbst vom Wind durchgespustet fühlt. Das Irland der 1960er und der frühen 1970er entfaltet sich in „Nora Webster“ in vielen Facetten – auch von den politischen Entwicklungen der Zeit bekommen man einen Eindruck.
- Vinyl-Fans: Alle mit einem Herz für Schallplatten werden in diesem Roman ausgiebig auf ihre Kosten kommen.
- Alle, die bei ihrer Lektüre Wert auf realistische, komplexe und spannende Charaktere legen.
Wann ich zu etwas anderem greifen würde:
Wenn du das Gefühl hast, dass dir eine immer wieder traurige und schwermütige Lektüre gerade zu viel ist, würde ich „Nora Webster“ in diesem Moment nicht empfehlen. Probier es dann doch lieber mit einem Buch, das dich wirklich zum Lachen bringt wie „Die souveräne Leserin“ oder „Mister Weniger“, oder einem lebensbejahend-munteren Buch wie „Geheime Geschichten für Frauen, die Saris tragen“ oder „Liebe Mrs. Bird“.
Auch wenn du dich gerade schwer konzentrieren kannst und ein Buch mit viel Handlung brauchst, um gleich richtig gepackt zu werden, könnten „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ oder „Kleine Feuer überall“ gerade eher etwas für dich sein.
Der Moment danach:
Wenn du „Nora Webster“ ausgelesen hast, kann es gut sein, dass du gerade dein altes Lieblingsalbum mal wieder herausgekramt hast, darüber nachdenkst, Gesangsstunden zu nehmen und dich allgemein nach Musik sehnst. In dem Fall habe ich die ideale Anschlusslektüre für dich: „Das Ensemble“ von Aja Gabel. Hier geht’s zu meiner Rezension.
Daten zum Buch:
Titel: Nora Webster
Originaltitel: Nora Webster
Autorin: Colm Tóibín
Übersetzer: Giovanni und Ditte Bandini
Verlag: Hanser
Seiten: 384
Preis: 26€
ISBN: 978-3-446-25063-5
Als Taschenbuch ist „Nora Webster“ bei dtv erschienen:
Preis: 12,90€
ISBN: 978-3-423-14629-6
Mehr über das Buch und „Lesekreis-Material“ zum zeitgeschichtlichen Hintergrund findest du hier bei dtv, eine Leseprobe und Infos zum Buch gibt es hier bei Hanser.