Traurig und schön: „Die Mütter“ von Brit Bennett gibt keine einfachen Antworten

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Foto: Mac Mullins / Pexels

In Zeiten, in denen das Leben – mal wieder – kompliziert ist und wir alle viele Stunden zuhause verbringen, ist es verlockend und berechtigt, abzuschalten und sich mit Netflix in eine heile Welt zu flüchten. Gerade in diesen Zeiten kann es aber auch guttun, ein Buch zu lesen, das der Komplexität unserer Erfahrungen gerecht wird, das Melancholie aushält, anstatt sie zu übertünchen, das genau hin- und nicht wegschaut, und uns zum Nachdenken bringt anstatt zum Abschalten. Ein solches Buch voller Tiefe, Nuancen und Menschlichkeit ist der erste Roman der afroamerikanischen Autorin Brit Bennett: „Die Mütter“.

Worum es geht:

Nadia, ein siebzehnjähriges Mädchen in einem kleinen Strandort in Kalifornien, ist von einer tiefen Traurigkeit erfüllt seit dem Suizid ihrer Mutter. Sie weiß nicht, wohin mit ihrer Trauer, und so flüchtet sie sich in Alkohol und eine Fast-Beziehung mit dem ein paar Jahre älteren Luke. Als sie ungewollt schwanger wird, entscheidet sie sich für eine Abtreibung.

Wenige Monate später verlässt Nadia ihren Heimatort zum Studieren. Die Ereignisse, Missverständnisse und Beziehungen, die diesen Sommer geprägt haben, verfolgen sie aber noch Jahre später. So geht es in diesem Roman um Ungesagtes, um Verlust, nicht artikulierten Schmerz, um gesellschaftliche Einengung und um Einsamkeit – aber auch um die Kraft, die aus zwischenmenschlicher Nähe geschöpft werden kann.

Das Besondere an diesem Buch:

In den Jahren nach diesem Sommer entspinnt sich eine Dreiecksgeschichte zwischen den drei Hauptfiguren. Jede von ihnen trägt einen eigenen Schmerz in sich: Nadia hat nicht nur mit ihrem Verlust zu kämpfen, sondern auch mit unterschwelligem Rassismus und der Suche nach einer Antwort auf die Frage, weshalb sich ihre Mutter, die genauso jung schwanger wurde wie Nadia, das Leben nahm. Luke findet seinen Platz nicht, seit sein großer Traum einer Footballkarriere geplatzt ist. Und dann ist da noch Aubrey, die in jenem Sommer Nadias beste Freundin wird und ihren übergriffigen Stiefvater zu vergessen versucht. Ich konnte nicht aufhören, „Die Mütter“ zu lesen, weil ich so sehr mit den Charakteren mitgefühlt habe, dass ich wissen musste, wie es für sie weitergeht.

Zudem ist es etwas Besonderes, wie Brit Bennett dieses Buch erzählt: Immer wieder sprechen „die Mütter“, alte Damen aus der Kirchengemeinde, die alles im Blick haben und über Nadias Leben urteilen. Diese Passagen geben den Ereignissen, die wir sonst aus den Sichtweisen von Nadia, Luke und Aubrey erzählt bekommen, eine weitere Perspektive – und sorgen dafür, dass man nach der Lektüre über die Bedeutung hinter dem Buchtitel ausführlich diskutieren möchte.

Die Sprache des Romans bringt die Traurigkeit seiner Figuren zum Schwingen. Manche Sätze fand ich so schön und wahr, dass ich sie immer wieder gelesen habe. „Die Mütter“ ist ein Buch, das man gut langsam lesen kann, trotzdem schnell lesen möchte, und das nach der Lektüre noch lange nachhallt.

Ein guter Moment für dieses Buch:

Wenn du ein wenig melancholisch bist oder in einer nachdenklichen Stimmung, holt dich dieser Roman genau dort ab. Er bringt all das mit sich, was gut daran ist, manchmal nicht überschwänglich und mittendrin zu sein: ein klein wenig Abstand, Ruhe, und einen offenen Blick. „Die Mütter“ nimmt sich die Zeit, den Dingen und ihren Auswirkungen ins Auge zu sehen. Die Nachwirkungen von Nadias Abtreibung geben einem Thema Raum, das nicht nur menschlich, sondern auch politisch nach wie vor aktuell ist.

Aber auch, wenn du dich alleine fühlst, kann „Die Mütter“ die richtige Lektüre sein. Die Figuren sind auf unterschiedliche Arten immer wieder allein und du wirst merken, dass du mit dieser Erfahrung alles andere als allein bist.

Buchcover zu Die Mütter von Brit Bennett
Cover: rowohlt.de

Wer bei diesem Buch in jeder Stimmung richtig ist:

  • Alle, die – wie ich – gerne über interessante, nuancenreiche Vater-Tochter-Beziehungen lesen. Die Ferne trotz der Liebe zwischen Nadia und ihrem Vater fand ich eine der bewegendsten Beziehungen in dem Roman.
  • Alle, die Bücher wegen den Charakteren lesen. Hier lernst du Figuren kennen, die du nicht wieder vergessen wirst.

Wann ich zu etwas anderem greifen würde:

Wenn du gerade kein trauriges Buch lesen möchtest oder dir manche der Themen in „Die Mütter“ gerade zu schwer sind, du aber dennoch nach einer Lektüre mit starken und interessanten Figuren suchst, ist vielleicht „Das Ensemble“ etwas für dich.

Vielleicht bist du aber auch in einer Stimmung, in der du die Spannung in einem Roman eher im Äußeren als im Inneren suchst. Dafür kann ich dir „Aufruhr in Oxford“ und „Kleine Feuer überall“ empfehlen. Diese Romane packen dich mit ihrer spannenden Handlung, haben aber trotzdem etwas zu sagen, weil sie vom Plot aus in die Motivationen und das Innenleben ihrer Figuren eintauchen.

Der Moment danach:

Ich wollte von Brit Bennetts Figuren gar nicht Abschied nehmen, als ich das Buch zu Ende gelesen hatte. Wenn es dir ähnlich geht, kannst du gleich mit ihrem neuen Roman „Die verschwindende Hälfte“ weitermachen, der dieses Jahr auf Deutsch erschienen ist.

Wenn du nach „Die Mütter“ ein Buch suchst, das einen ähnlich unaufdringlichen Sinn für die Feinheiten eines Verlusts mitbringt, schlage ich dir „Nora Webster“ vor. Colm Tóibíns Roman schafft es, wie ich finde, genauso, Traurigkeit einen Raum zu geben, ohne alles auszubuchstabieren oder kitschig zu werden.

Daten zum Buch:

Titel: Die Mütter
Originaltitel: The Mothers
Autorin: Brit Bennett
Übersetzer: Robin Detje
Verlag: Rowohlt Taschenbuch
Seiten: 320
Preis: 12,00€
ISBN: 978-3-499-27344-5

Eine Leseprobe und mehr Infos zum Buch findest du hier auf der Website des Rowohlt Verlags.

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