Alles Routine? Sayaka Murata schärft den Blick fürs Absurde

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Foto: Laura Chouette / Unsplash

Kennst du diese Homeoffice-Tage, die aus endlosen Listen zu bestehen scheinen und an denen zwischen Haushalt und Arbeit kaum Zeit bleibt? Die wenigen Pausen an solchen Tagen sind oft die Momente zwischen zwei Aufgaben, wenn du aufstehst, ein Glas Wasser trinkst und das Handy in die Hand nimmst, um zu schauen, welche Arbeits-Emails du gleich beantworten musst.

Für diesen Moment, den du genauso gut für eine richtige, wenn auch kurze, Verschnaufpause nutzen könntest, habe ich ein Buch für dich: „Die Ladenhüterin“ von Sayaka Murata. Es ist ein kurzer Roman und schon nach den ersten paar Seiten, die du dir gönnen kannst, bevor du wieder an den Schreibtisch gehst, siehst du hinter den Alltag – in seine Absurditäten und auch in seine Abgründe.

Worum es geht:

Der Roman von Sayaka Murata führt uns in einen 24-Stunden-Supermarkt im heutigen Japan. Keiko ist Mitte dreißig und hat noch nie die Ziele, Wünsche und Motivationen ihrer Mitmenschen teilen können. Freundschaften, Mitgefühl und Interessen sind ihr eher fern. Deshalb arbeitet sie seit bald zwanzig Jahren als Aushilfe in einem rund um die Uhr geöffneten Konbini.

Dort sind alle Abläufe exakt geregelt: Der Tonfall, in dem Keiko Kunden begrüßen soll, der Gesichtsausdruck, den sie dabei annehmen soll, die Arbeitskleidung, zu welcher Uhrzeit welche Regale aufgefüllt werden müssen – zum ersten Mal weiß sie, wo sie hingehört und wie sie ihre Tage füllen kann, ohne anzuecken.

Doch der Druck der Gesellschaft wird immer extremer: Keikos alte Schulkameradinnen sprechen ihr fast jede Menschlichkeit ab, weil sie weder verheiratet ist noch einen „richtigen“ Job hat. Immer wieder machen sie ihr deutlich, dass Keiko kein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft ist. Um dem Druck zu entkommen, tut sich Keiko mit einem anderen Angestellten zusammen, der genauso wenig ins System passt.

Ob das Buch mit ultimativer Anpassung oder einer Rebellion endet, findest du am besten selbst heraus!

Das Besondere an diesem Buch:

Mit Keiko kann man nicht warm werden. Obwohl sie aus der Ich-Perspektive erzählt und man ihr dadurch recht nahe kommt, bleibt sie distanziert. Überhaupt bewegen sie kaum Emotionen. Gerade dadurch aber lenkt sie den Fokus auf die Erwartungen der Gesellschaft. Weil diese Erwartungen sich bei Keiko nicht mit eigenem Ehrgeiz oder eigenen Träumen vermischen, tritt der gesellschaftliche Druck plötzlich glasklar hervor.

Keiko möchte keinen anspruchsvollen Job, sie möchte auch keine Beziehung oder ein Kind. Trotzdem kann sie sich dem enormen gesellschaftlichen Druck, diese Schritte abzuarbeiten, kaum entziehen. Die Ansprüche der Gesellschaft entpuppen sich als völlig entleert, da Keikos Mitmenschen eigentlich nur beruhigt werden wollen, dass alle Leben nach außen hin gleich aussehen.

Ich weiß nicht, wie es dir beim Lesen gehen wird, aber ich habe mich nach der Lektüre gefragt, was eigentlich meine Vorstellungen von einem erfüllten Leben sind und was ich für Erwartungen an Keiko herantrage. Zwar spiegelt „Die Ladenhüterin“ den gesellschaftlichen Druck in Japan – trotzdem bringt einen das Buch zum Nachdenken über die hiesige Gesellschaft.

Du siehst also, was ich meine, wenn ich sage, dass dich dieses Buch wirklich aus dem Alltag herausholt.

Ein guter Moment für dieses Buch:

Wenn du über den Alltag nicht hinaussiehst, deine Aufgaben unbefriedigend findest und das Gefühl hast, gerade nur To-Do-Listen abzuarbeiten, ist dieses Buch wirklich ideal. Der Roman holt dich genau dort ab, wo du gerade bist – im Alltag – und stellt ihn völlig infrage. Es kann aufbauend sein, zu merken, dass auch an den banalsten Dingen, mit denen man seinen Tag füllt, ganz schön viel dranhängt, wenn man mal darüber nachdenkt.

Mit Sayaka Muratas Roman wird dir der Alltag wahrscheinlich erst ein wenig unheimlich vorkommen, dann absurd, und dann wie ein Statement an sich. Mit dieser Perspektive lässt es sich dann ganz selbstironisch wieder an die Arbeit gehen!

Buchcover zu Die Ladenhüterin von Sayaka Murata
Cover: aufbau-verlag.de

Wer bei diesem Buch in jeder Stimmung richtig ist:

  • Alle, die beim Einkaufen den Blick schweifen lassen. Wenn du gerne das alltägliche Treiben im Supermarkt beobachtest, wirst du nach dieser Lektüre den Laden deines Vertrauens noch einmal mit ganz neuen Augen sehen.
  • Alle, die Freude am Absurden haben.
  • Alle, die zum Schreiben inspiriert werden wollen. Sayaka Murata hat früher selbst in einem Konbini gearbeitet – das scheint sie angeregt zu haben. So gesehen zeigt „Die Ladenhüterin“ nicht nur das Absurde des Alltags, sondern auch das Inspirierende darin!

Wann ich zu etwas anderem greifen würde:

Für Momente, in denen du Zuspruch, Aufmunterung oder positives Denken brauchst, ist „Die Ladenhüterin“ nicht das richtige Buch. Es ist eher unbequem und bringt dich zum Nachdenken – bei schlechten Nerven würde ich es nicht lesen. Wenn du also eine aufbauende Lektüre suchst, probier es doch mit „Die Widerspenstigkeit des Glücks“ oder, wenn es weiter weg von deinem Alltag sein soll, „Liebe Mrs. Bird“. Wenn du umgehende Lach-Therapie brauchst, ist „Die souveräne Leserin“ vielleicht das Richtige, und wenn du gerne länger was davon hättest, hilft vielleicht „Mister Weniger“.

Der Moment danach:

Wenn du „Die Ladenhüterin“ viel zu schnell ausgelesen hast, wartet schon die Anschlusslektüre auf dich: Sayaka Muratas neuer Roman „Das Seidenraupenzimmer“ ist gerade auf Deutsch erschienen.

Daten zum Buch:

Titel: Die Ladenhüterin
Originaltitel: Konbini Ningen
Autorin: Sayaka Murata
Übersetzerin: Ursula Gräfe
Verlag: Aufbau Taschenbuch
Seiten: 145
Preis: 10,00€
ISBN: 978-3-7466-3606-1

Weitere Infos zum Buch findest du hier auf der Website des Aufbau Verlags.

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