Lektüre für herausfordernde Zeiten: „Die Topeka Schule“ von Ben Lerner weitet den Blick

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Foto: privat

In Zeiten, in denen die Nachrichten aus aller Welt alles andere als beruhigend sind, man sich mit dieser Realität irgendwie einrichten muss und überlegt, was man vielleicht selbst tun kann, ist es manchmal gar nicht so leicht, das richtige Buch zu finden. Während ich in einem solchen Moment zuerst nach etwas Aufmunterndem, vielleicht auch Ablenkendem greife, trägt das nicht auf Dauer.

Eine nachhaltig stärkende Lektüre ist für mich ein Roman wie Ben Lerners „Die Topeka Schule“, der gerade dadurch aufbaut, dass er gesellschaftliche Dynamiken, denen man als Einzelner nicht entscheidend entgegenwirken kann und die doch jedes Leben prägen, und all die Widersprüche, die damit einhergehen, aufzeigt, aushält und weiterdenkt. Ein so kluges, feinfühliges und tiefgehendes Buch ermutigt, sich unserer komplexen Gegenwart mit Menschlichkeit zu nähern, aber auch mit der Ruhe und der Vielschichtigkeit, die wir in der Literatur finden können – als Gegenentwurf zu den einfachen, schwarz-weißen Antworten, die von vielen Seiten suggeriert werden.

Worum es geht:

Der Teenager Adam lebt als Sohn von Eltern, die beide als Psychologen arbeiten, in einer amerikanischen Stadt namens Topeka. An seiner Highschool ist er Debattierchampion und fährt regelmäßig zu überregionalen Wettbewerben – dafür perfektioniert er nicht nur seinen Auftritt und das Tempo seiner Sprache, sondern balanciert verschiedene Darstellungen der Männlichkeit: Sein Debattierhobby macht ihn zum Nerd, doch gleichzeitig kann er dadurch auch richtig gut rappen, was seine Jungsclique – allesamt weiß und der oberen Mittelschicht angehörig – cool findet. Adam sucht nach Wegen, nicht unmännlich gelesen zu werden und ist doch abgestoßen von „Männlichkeit“, wie sie ihm immer wieder begegnet.

Während Adams Vater Jonathan als Psychotherapeut besonders gut mit anderen Männern umgehen kann, ist Adams Mutter Jane, als Adam noch jünger war, durch ein Buch als Feministin berühmt geworden – wofür sie genauso viel Dankbarkeit wie Gegenwind, Verachtung und Häme erfahren hat. Letzteres vor allem von „den Männern“ – so nennt Lerner diejenigen Männer, die in dieser Rolle Gewalt ausüben. Jane hat immer wieder mit dieser Art von Gewalt zu tun gehabt in ihrem Leben und der Roman beschreibt auch, wie sie im Rückblick einen Missbrauch in ihrer Kindheit erkennt.

Du merkst, „Die Topeka Schule“ nimmt schwierige und nicht gerade leichtfüßige Themen in den Blick. Doch wie gekonnt sie in die Handlung und die Erzählweise integriert sind und die Lesenden dazu bringen, Genderrollen, die Art und Weise, wie Menschen miteinander umgehen und welche Rolle Sprache dabei spielt, infrage zu stellen, ist absolut beeindruckend.

Das Besondere an diesem Buch:

Männlichkeit und männliche Gewalt sind die großen Themen des Romans, denen sich Ben Lerner aus verschiedenen Blickwinkeln nähert. Abwechselnd folgt man als Lesende Adams Perspektive, der seiner Eltern und der von Darren, einem Außenseiter in Adams Schule, der nochmal ein anderes Licht auf die Gruppendynamik der Jugendlichen wirft. In den verschiedenen Erzählperspektiven laufen Vergangenheit und Gegenwart, Schmerz und Wut, aber auch Liebe und Verletzlichkeit ineinander.

Das Tolle ist, dass Ben Lerner die Form und den Inhalt seines Romans perfekt ineinanderschmiedet. Denn die Dynamiken, in denen sich männliche Gewalt einerseits bemerkbar macht, andererseits aber auch herausfordern und bekämpfen lässt, lokalisiert er in der Sprache. So geht es um die verschiedenen Vokabulare, die Adam ansammelt, je nachdem, in welchem Kontext er welche Form von Männlichkeit demonstriert. Und Jane bringt die sie am Telefon beschimpfenden „Männer“ dazu, vor Scham gar nichts mehr zu sagen, indem sie sie bittet, lauter zu sprechen. Diese unglaublich starken und klugen Beobachtungen über Macht, Sprache, Gewalt und Liebe haben den Roman für mich zu einem höchst eindrücklichen Leseerlebnis gemacht.

Buchcover zu Die Topeka Schule von Ben Lerner
Cover: suhrkamp.de

Ein guter Moment für dieses Buch:

Wann immer du über unsere Gesellschaft, ihre Menschenbilder und ihren Preis nachdenkst, ist „Die Topeka Schule“ die richtige Lektüre. Der Roman ist hellwach, aufmerksam und sehr präzise formuliert – eine Stärke, die die Übersetzung meiner Meinung nach bis auf einige wenige Stellen großartig einfängt. So wird dir „Die Topeka Schule“ reichlich Stoff zum Nachdenken, viele gute Beobachtungen, aber letztendlich auch Hoffnung mitgeben. Dadurch ist der Roman ein bestärkender Begleiter für Zeiten, in denen dich gesellschaftliche Entwicklungen umtreiben.

Wer bei diesem Buch in jeder Stimmung richtig ist:

  • Alle, die Freude an mutiger, eindrücklicher und ungewöhnlicher Sprache haben.
  • Alle, die sich für Psychologie und Familiendynamiken interessieren.
  • Alle, die ein Buch lesen möchten, das jede Menge Gesprächsstoff und lange nachwirkende Denkanstöße liefert.

Wann ich zu etwas anderem greifen würde:

Wie ich bereits oben erwähnt habe, sind die Themen und Erfahrungen, die in „Die Topeka Schule“ beschrieben werden, durchaus schwergewichtig. Wenn du dich beispielsweise dem Thema Missbrauch gerade nicht gewachsen fühlst, leg das Buch vorerst besser zur Seite.

Wenn du ein etwas leichtfüßigeres Buch suchst, das aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick nimmt, könnte Jonathan Coes Brexit-Roman „Middle England“ etwas für dich sein. Und wenn du gerade lieber einmal ganz abtauchen möchtest, wirst du aus der Lektüre von „Ein Gentleman in Moskau“ ganz sicher gestärkt und erholt herausgehen.

Daten zum Buch:

Titel: Die Topeka Schule
Originaltitel: The Topeka School
Autor: Ben Lerner
Übersetzer: Nikolaus Stingl
Verlag: Suhrkamp
Seiten: 395
Preis: 24,00€
ISBN: 978-3-518-42949-5

Hier findest du eine Leseprobe und mehr Infos zum Buch auf der Website von Suhrkamp.

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Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Wendelin

    Hi Felicitas,

    klasse Beitrag! Er passt auch sehr gut in die Zeit…

    Habe gerade dein Interview auf Skoutz gelesen (https://skoutz.de/zu-besuch-bei-felicitas-von-buchgespuer/ ), Glückwunsch zur Aufnahme in die Midlist! Ich drücke weiterhin die Daumen!

    LG Wendelin

    PS: Stört dich am Titel „Die Topeka Schule“ nicht auch, dass man das ohne Bindestrich schreibt? Es müsste doch sonst eigentlich „Die Topeka-Schule“ oder wenn es mehrdeutig sein soll (dass der Ort Topeka eine Schule ist) ggf. „Die Schule Topeka“ oder „In der Schule von Topeka“. Aber „Die Topeka Schule“ ist doch einfach falsch, oder? Und etwas lieblos aus dem Englischen übersetzt?

    1. admin

      Hi Wendelin!
      Es freut mich sehr, dass du das Interview gelesen hast und danke fürs Daumen drücken! Tatsächlich habe ich gerade erfahren, dass buchgespür es nicht auf die Shortlist für den Skoutz-Award geschafft hat, aber es ist trotzdem schön, dass ich bei der Midlist dabei war!
      Über die Sache mit dem Titel habe ich ein bisschen nachgedacht, ja, du hast recht, eigentlich bräuchte es einen Bindestrich – oder man hätte es etwas anders übersetzen müssen. Es ist dann doch interessant, wie manche noch so simple Formulierungen doch nicht so leicht zu übertragen sind. Das wäre mir aber wohl gar nicht aufgefallen – schön, dass ich so aufmerksame Blog-Leser habe! 🙂
      Liebe Grüße
      Felicitas

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