„Während die Welt schlief“ von Susan Abulhawa verschafft Perspektive

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Foto: Robert Eklund / Unsplash

Sich für ein Buch zu entscheiden, das einen aus dem eigenen Alltag herausholt, muss nicht nur bedeuten, ganz abzuschalten. Die richtige Geschichte kann dafür sorgen, dass man sich in andere Menschen hineinversetzt und, auch nachdem man das Buch wieder zur Seite gelegt hat, die Dinge ein wenig besser einordnen kann. Indem man über ganz andere Probleme und Themen nachdenkt, gewinnt man Weitsicht und mehr Perspektive auf die eigenen. Diesen Effekt hatte bei mir „Während die Welt schlief“, ein unglaublich bewegendes und mitreißendes Buch über eine palästinensische Familie im Nahostkonflikt.

Worum es geht:

Wir lernen die Familie Abulheja im Jahr 1941 kennen und begleiten sie über mehrere Generationen bis ins Jahr 2002. Das friedliche und ländliche Leben im palästinensischen Dorf Ein Hod der 1940er wird jäh zerrissen, als die Einwohner 1948 aus ihrem Dorf vertrieben werden und der kleine Sohn Ismael, der noch ein Baby ist, spurlos verschwindet.

Die Familie lebt nun im Flüchtlingslager Jenin, wo die jüngste Tochter Amal zur Welt kommt. Trotz der Armut findet sie in ihrer Kindheit in Jenin einen täglichen Zauber, wenn sie in der Morgendämmerung von ihrem Vater arabische Poesie vorgelesen bekommt. Diese Szenen sind wirklich magisch.

Der Roman folgt Amal und ihrer Familie durch die nächsten Jahre, geprägt von Krieg, Gewalt und Verlust. Amals Bruder Ismael wächst als Israeli auf und steht ihrem ältesten Bruder Yousef im Kampf gegenüber. Es dauert Jahrzehnte, bis Amal, die mittlerweile in den USA lebt, ihre Familiengeschichte aufarbeiten kann.

Das Besondere an diesem Buch:

Wie du dir nach meiner Beschreibung vielleicht schon denken kannst, ist „Während die Welt schlief“ eine intensive Leseerfahrung. Der Roman ist mir vor allem deshalb so nahe gegangen, weil die vielen Charaktere so überzeugend und lebensecht sind. Ihre Erfahrungen und Traumata prägen die Figuren auf unterschiedliche Art. Dass sich manche von ihnen innerlich vom Leben abwenden, ist nachvollziehbar.

Was den Roman außerdem besonders macht, sind die vielen bewegenden Momente, die zeigen, wie Menschen immer wieder Schönes entstehen lassen können. Die Freundschaft zwischen Amal und ihrer Kindheitsfreundin Huda, aber auch die ein Leben umspannende Verbindung zwischen Hasan, Amals Vater, und Ari Perlstein, der als Kind eines jüdischen Professors aus Deutschland geflohen ist, sind Lichtblicke. Genauso bewegend fand ich die Nähe zwischen Amal und ihrer Schwägerin, die sich gegenseitig Kraft geben. Diese starken Bande zwischen den Charakteren schaffen eine Kraft und eine Schönheit, die das Buch trotz allem Schmerz vermittelt.

Ein guter Moment für dieses Buch:

Wenn du ein wenig Perspektive auf deinen Alltag brauchen kannst, bist du hier richtig. Das Buch ist zum Beispiel eine gute Idee für Phasen, in denen du besonders viel arbeiten musst und zu sehr mittendrin bist, als dass dich ein rosiges Buch voller guter Laune richtig ansprechen würde. „Während die Welt schlief“ wird dich richtig packen, sodass du beim Lesen deinen Alltag ganz hinter dir lässt. Vor allem aber wird dir der Stress des täglichen Leben sehr viel machbarer vorkommen, wenn du das Buch wieder zur Seite legst. Denn die Momente von Liebe und gegenseitiger Unterstützung zwischen den Figuren lenken den Blick auch darauf, was eigentlich wichtig ist.

Man kann diesen Roman sowohl für die starken Charaktere lesen als auch, um einen Einblick in das Leben in Palästina in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zu bekommen. Weil das Buch eine so konkrete politische Geschichte erzählt, finde ich, dass es eine gute Wahl ist, wenn du genug von deinen eigenen Themen hast und ein paar Stunden brauchen kannst, in denen es mal nicht um dich geht.

Buchcover zu Während die Welt schlief von Susan Abulhawa
Cover: randomhouse.de

Wer bei „Während die Welt schlief“ in jeder Stimmung richtig ist:

  • Alle, die beim Lesen besonderen Wert auf Charaktere legen, in die sie sich hineinversetzen können.
  • Alle, die es wohltuend finden, bei ihrer Lektüre auch mal weinen zu können.
  • Alle, die ein historisches Thema gerne aus der Perspektive einzelner Menschen betrachten. Die Familie Abulheja ist fiktiv, aber die Erfahrungen, die sie machen und der geschichtliche Kontext sind nur allzu real und auch aktuell: Das Flüchtlingslager Jenin gibt es immer noch.

Wann ich zu etwas anderem greifen würde:

Wenn du gerade keine Energie für eine traurige und oft aufwühlende Geschichte hast, ist „Während die Welt schlief“ nicht das richtige Buch für dich. Der Roman lässt einen alles andere als kalt und man muss schon einiges aushalten. Wenn du also glaubst, eine schmerzvolle Geschichte gerade nicht zu verkraften, greif lieber erstmal zu einer erdenden, aufbauenden Lektüre wie „Ein Gentleman in Moskau“ oder „Liebe Mrs. Bird“.

Aber auch, wenn es keine Frage der Nerven ist, sondern du gerade einfach nach einer leichten, entspannten Lektüre suchst, ist das genauso legitim. Für solche Stimmungen kann ich dir zum Beispiel „Die Widerspenstigkeit des Glücks“ oder „Mister Weniger“ empfehlen.

Daten zum Buch:

Titel: Während die Welt schlief
Originaltitel: Mornings in Jenin
Autorin: Susan Abulhawa
Übersetzerin: Stefanie Fahrner
Verlag: Diana Verlag
Seiten: 448
Preis: 9,99€
ISBN: 978-3-453-35662-7

Eine Leseprobe und weitere Infos zum Buch findest du hier auf der Verlagswebsite von Randomhouse.

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