Im Hier und Jetzt mit Olivia Wenzels „1000 Serpentinen Angst“

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Foto: Stanislav Kondratiev / Unsplash

Lesen ist eine Art, dem Leben zu begegnen – das erlebe ich immer wieder, wenn mich ein Buch dazu bringt, über aktuelle Geschehnisse und Zusammenhänge nachzudenken und zwar mal nicht von meinem eigenen Erfahrungsschatz aus. Stattdessen werde ich mit einem Blick auf die Gesellschaft konfrontiert, der mich dazu bringt, mir meinen eigenen bewusst zu machen. Ein solches Buch fürs Hier und Jetzt ist Olivia Wenzels „1000 Serpentinen Angst“ über eine junge, ostdeutsche schwarze Frau, die sich mit ihrer Familiengeschichte, ihren Beziehungen, ihren Erfahrungen mit Rassismus und ihren Ängsten auseinandersetzt.

Worum es geht:

Erinnerst du dich noch an den Moment, in dem du erfahren hast, das Donald Trump die Präsidentschaftswahl gewonnen hat? Diesen Schockmoment erlebt die Erzählerin von „1000 Serpentinen Angst“ in den USA, wohin sie eine der Reisen unternimmt, auf die wir sie in diesem Roman begleiten. Die Ich-Erzählerin ist Anfang dreißig und lebt in Berlin. Geboren ist sie in den Achtzigern in der DDR – und nicht nur diese Vergangenheit prägt ihre Gegenwart. Im Lauf des Romans stellt sie sich ihren Erinnerungen, ihren Verletzungen und ihren Ängsten.

Ängste prägen den Alltag der Hauptfigur in vielen Bereichen. Manchmal ist sie gelähmt von der Angst vor Terror, sie lebt unter dem ständigen Blick der Mitmenschen, die sie vor allem als schwarze Frau wahrnehmen, schildert rassistische Angriffe und die Angst, die von solchen Erlebnissen kommt oder auch nur von den noch häufigeren Fast-Erlebnissen, der beinahen Gewalt. Sie hat Angst, sich verletzlich zu machen in der Liebe und Angst, ihren Zwillingsbruder loszulassen, der als 19-Jähriger umgekommen ist.

Das Besondere an diesem Buch:

Lange hat mich die Erzählweise eines Buchs nicht mehr derart in den Bann gezogen. Der Roman wird nicht als chronologischer Fließtext mit Kapitelüberschriften erzählt, sondern voller Gedankensprünge, in wechselnden Formaten – ganz so, wie der Gedankengang der Erzählerin am direktesten ausgedrückt werden kann.

Besonders fesselnd fand ich die Passagen, in denen der Erzählerin immer wieder Fragen gestellt werden von einer Stimme, die man nicht so leicht einordnen kann. Diese Stimme bewegt die Erzählerin zum Weitererzählen, hakt nach, weist darauf hin, wenn sie ablenken will, konfrontiert sie aber auch mit Vorurteilen und lässt ihr keine Ruhe. Dieses Format liegt Olivia Wenzel, die bisher vor allem fürs Theater geschrieben hat, sehr – und auf mich hat es einen richtigen Sog ausgeübt.

„1000 Serpentinen Angst“ beschreibt so viele Themen und Probleme der Gegenwart auf eine selbstironische, ehrliche und aufrüttelnde Art. Es geht um Konsum, Selbstgefälligkeit, Privilegien, den Blick auf schwarze Menschen in Deutschland. Es geht um emotionale Verletzungen und die Angst vor Gefühlen. Es geht um Freundschaft und die Liebe, ums sich trauen und sich abgrenzen.

Ein guter Moment für dieses Buch:

Wenn du lange kein gutes Buch mehr gelesen hast, ist „1000 Serpentinen Angst“ die richtige Wahl. Es hält einen ständig in Atem, weil die Gedanken- und damit Zeitsprünge immer wieder überraschen und einen richtigen Sog aufbauen. Gleichzeitig ist das Buch oft lustig und sehr schlagfertig – und lässt dann wieder eine Traurigkeit und einen ungeschönten Blick auf die Welt zu, dem man sich nicht entziehen kann.

Wenn du selbst gerade energielos bist, holt dich dieser Roman wieder ins Hier und Jetzt, denn er ist gleichzeitig lässig und hellwach. „1000 Serpentinen Angst“ zeigt das Leben mit den schönen Momenten, die es ausmachen, aber auch mit all dem, was problematisch und schmerzhaft ist. Diesen Roman zu lesen ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Leben in Deutschland. Ich finde es toll, wenn Bücher als ein Medium jenseits der Nachrichten die Möglichkeit bieten, sich mit dem Grundlegenden und dem Alltäglichen des Lebens zu beschäftigen und über die eigenen Erfahrungen und Einstellungen nachzudenken.

Buchcover 1000 Serpentinen Angst
Cover: fischerverlage.de

Wer bei diesem Buch in jeder Stimmung richtig ist:

  • Alle, die im Flugzeug beim Start erstmal über mögliche Abstürze nachdenken.
  • Alle, die in Berlin schon mal einen Therapeuten gesucht haben und sich noch lebhaft an die Kennenlern-Odyssee erinnern.
  • Alle, die deutsche Literatur als etwas angestaubt abgestempelt haben.
  • Alle, die wissen, wie es ist, sich einem Thema stellen zu müssen.

Wann ich zu etwas anderem greifen würde:

Wenn dir nach Eskapismus ist, würde ich erstmal ein Buch lesen, das weiter weg von unserem aktuellen Leben in Deutschland ist. Das Tolle ist ja, das Bücher beides bieten können – eine Auszeit von allem genauso wie einen Raum, um sich mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Ich finde, beides hat seine Berechtigung und lässt sich ja zum Glück bestens kombinieren. Und wenn du dann mit einer anderen Lektüre mal richtig abgetaucht warst und wieder bereit bist fürs Hier und Jetzt, wartet hier etwas richtig Packendes auf dich.

Daten zum Buch:

Titel: 1000 Serpentinen Angst
Autorin: Olivia Wenzel
Verlag: S. Fischer Verlag
Seiten: 352
Preis: 21€
ISBN: 978-3-10-397406-5

Eine Leseprobe und weitere Informationen zum Buch findest du hier auf der Verlagswebsite vom S. Fischer Verlag.

Wenn du Lust hast, noch mehr über das Buch zu hören, empfehle ich dir die Folge vom 10. Mai 2020 des Podcasts „Die Literaturagenten“, in der Olivia Wenzel über ihr Buch spricht.

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